„Bis hierhin und nicht weiter.“

Was uns die Wächterinnen von St. Andreas zu sagen haben

Es wird Abend in der Bogenstraße. Ich blicke auf meine Hand, die auf der geschnörkelten Eisentürklinke unseres Kircheneingangs liegt, und stemme mich mit aller Kraft gegen die imposante Flügeltür. Sie öffnet sich leicht knartschend und durchaus widerwillig. Ich trete ein. Mit einem besiegelnden Geräusch fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Ich blicke nach vorne: Die Kirche ist dunkel und leer. Das Tappen meiner Füße auf dem steinernen, kalten Boden schallt im Gewölbe wider. Ich sehe weit hinten, wie sich das Licht der Abendsonne besänftigend auf den Stufen des Altarraums widerspiegelt: ein Regenbogen wie ein Fenster in die Ewigkeit.

Da merke ich, dass ich nicht alleine bin. Ich spüre Blicke auf meinen Schultern. Ich bleibe erstarrt stehen und drehe mich nach links: „Bis hierhin und nicht weiter“, ruft der Mund an der Wand, der wachsam aufgerissen ist. Ich trete näher und sehe, dass ein ganzes Gesicht zum Mund gehört. Es blickt mich warnend an, als ginge es um alles oder nichts in diesem Moment. Der Körper streckt mir seine erhobene Hand entgegen. „Du musst draußen bleiben“, schallt es aus dem Mund. „Ich muss draußen bleiben?“, antworte ich kopfschüttelnd in Gedanken.

„Nein, nicht du – das, was dein Herz zerfrisst und schwermacht, deine negativen Gedanken, die dir die Kehle zuschnüren. Die gehören hier nicht hin. Wirf ab, wer du da draußen in der Welt bist, das ist hier nicht wichtig. Ab hier bist du frei!“ Schlagartig öffnet sich ein Knoten in meiner Brust und ich kann atmen. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Da spüre ich ein Tippen auf meiner rechten Schulter. Ich wende mich zur anderen Seite und sehe dort … Frieden.

Aus den zwei nach oben gefalteten, betenden Händen strömt ein besonnenes Licht zu mir hinunter. Die symmetrischen Finger laufen auf ein anderes Gesicht zu. Dessen Augen sind geschlossen, blicken mich aber trotzdem irgendwie an. Da ist jemand tief in sich versunken, hoch konzentriert und doch gleichzeitig entspannt. Dieses Gesicht hat keine verzerrten Mundwinkel, sondern ist erhaben in seiner Stille, schön in seiner Schlichtheit. Ich bin plötzlich vollkommen bei mir, wachsam im Jetzt. „Nun darfst du eintreten, nun bist du bereit“, flüstert der zweite Mund. Ich blicke hinter mich und dort liegt der Ballast meines Lebens. Ich kann ihn dort lassen, bei den Wächterinnen von St. Andreas.

Liebe Gemeinde, was ich hier beschreibe, sind keine Hirngespinste. Diese Gestalten, diese Körper mit Gesichtern, sind wirklich da, wenn wir unsere Kirche betreten. Sie sind nur so unscheinbar, ihre Bronzehaut so geschwärzt, dass man sie eigentlich nur übersehen kann. In den schattigen Nischen des Eingangsgemäuers verstecken sie sich: Die wachenden Engel. Haben Sie sie schon einmal wahrgenommen, in ihr geheimnisvolles Antlitz geblickt? In lebensgroßer menschlicher Gestalt heben sie sich mit Flügeln und Heiligenscheinen empor, machen uns bewusst, dass der Raum, der uns einlädt, ein heiliger ist. Er kann und darf nicht ohne eine tiefe innere Neujustierung betreten werden.

Als Wächterinnen markieren sie die Schwelle in eine andere Welt. Hier ist alles, was uns sonst einkerkert, außer Kraft gesetzt. Ab hier können wir bewusst erfahren, dass wir geliebt sind. So, wie wir sind. Wenn wir unsere Kirche betreten, ziehen wir ein neues Gewand an. Wir dürfen Gottes leuchtendes Angesicht spüren auf unserer Stirn. Wir dürfen hier weinen, wir dürfen hier jubeln, wir dürfen hier echt sein.

So, wie wir sind. Wir dürfen einfach nur … sein. Und das ist genug. Unsere zwei Wächterengel in St. Andreas machen uns das immer neu bewusst, wenn sie uns entwaffnend begrüßen. Deshalb möchte ich Sie einladen: Stellen Sie sich auf die Schwelle, wenn Sie das nächste Mal bei uns sind, horchen Sie in sich hinein.

Was Ihnen unsere Wächterinnen wohl zu sagen haben?

Mit hoffnungsvollen Wünschen für Sie alle!
Ihre Vikarin Olivia Brown

Für den Gemeindebrief 02/2020