Predigt 5. Sonntag nach Trinitatis

von Pastorin Anja Stadtland | St. Andreas Bogenstraße 04.07.2021

Predigttext zum Nachlesen

Predigt am 4. Juli 2021 (5. Sonntag nach Trinitatis)
von Pastorin Anja Stadtland

 

Liebe Gemeinde!

Meine Uhr braucht ein neues Armband. Beim Juwelier ist es voll und ich muss warten. Die Frau vor mir kann sich nicht entscheiden. Zwei Kettenanhänger liegen vor ihr auf dem Verkaufstresen. Der Engel? Das Kreuz? Das Kreuz? Der Engel? Es geht hin und her. Sie merkt, dass sie den Laden aufhält und dreht sich um. „Was meinen Sie?“ Ich hebe die Schultern. „Welcher Anlass?“, frage ich. „Konfirmation. Meine Patentochter wird konfirmiert.“  Ich zögere kurz, meine Gedanken gehen eigene Wege. Schon oft habe ich Konfirmand*innen Kreuze  an Lederbändern um den Hals gelegt. Besondere Augenblicke im Rahmen ihrer Konfirmation. Es erinnert an den Moment bei der Taufe. Ich zeichne dem Täufling das Wasserkreuz auf die Stirn. „Du gehörst zu Christus!“ Das Silberkreuz als Kette – sie können entscheiden, es zu tragen, und damit das zu verbinden, was ihren Glauben und ihre Beziehung zu Christus ausmacht. Das Kreuz tragen, denke ich und greife mir an den Hals. Ich habe keine Kreuz-Kette. Auch zur Konfirmation habe ich keine bekommen, schade eigentlich. „Ich nehme den Engel!“, sagt die Frau. „So ein Kreuz ist irgendwie…!“ Den Satz beendet sie nicht. Setzt neu an: „Ein Engel ist irgendwie…!“ Auch dieser Satz bleibt in der Luft hängen.

So ein Kreuz ist irgendwie….

  1. Kor 1, 18-25 (Übersetzung aus der Basisbibel)

18 Die Botschaft vom Kreuz erscheint denen,die verloren gehen, als eine Dummheit. Aber wir, die gerettet werden, erfahren sie als Kraft Gottes.19 Denn in der Heiligen Schrift steht: „Ich will die Weisheit der Weisen auslöschen und von der Klugheit der Klugen nichts übrig lassen.“

20 Wo sind jetzt die Weisen, wo die Schriftgelehrten, wo die wortgewaltigen Redner unserer Zeit? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt als Dummheit entlarvt? 21 Die Weisheit Gottes zeigt sich in dieser Welt. Aber die Welt hat ihn mit ihrer Weisheit nicht erkannt. Deshalb hat Gott beschlossen,durch eine scheinbar unsinnige Botschaft alle Glaubenden zu retten. 22 Die Juden wollen Zeichen sehen. Die Griechen streben nach Weisheit. 23 Wir dagegen verkünden Christus, den Gekreuzigten: Das erregt bei den Juden Anstoß und für die anderen Völker ist es reine Dummheit. 24 Christus ist Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Das verkünden wir allen, die berufen sind – Juden wie Griechen.25 Denn was an Gott als dumm erscheint, ist weiser als die Menschen. Und was an Gott schwach erscheint, ist stärker als die Menschen.

Mit diesem Text ist alles gesagt. So ein Kreuz ist wie… Alles gesagt. Und doch ist es wie immer, wenn ich einen Text des Apostels Paulus lese oder höre: „Mann, Paulus, warum immer so kompliziert. Sag doch einfach mal mit leichter Sprache, was Du meinst!“ Doch eigentlich steckt in meinem Widerstand der Wunsch, dass Paulus es mir leichter macht mit meinen eigenen komplizierten Fragen, die ich manchmal kaum greifen, geschweige denn für die ich Antworten formulieren kann.

Also: Welche Fragen knüpfen sich an diesen Text von Paulus. Der ja nicht an uns schreibt, sondern an seine ganz konkreten Gemeinden mit ihren eigenen ganz konkreten Baustellen. Für diesen Text hat er seine Gemeinde in Korinth vor Augen. Mit ihrer Baustelle: Eine lebendige Gemeinde mit Anpassungs- und Alltagsproblemen hinsichtlich des Zusammenlebens als Glaubensgemeinschaft. Die Korinther*innen streiten, bilden Grüppchen und polarisieren. Ausgangspunkt ist die Taufe. Auf wen berufen wir uns, wenn wir taufen? Auf Kephas, auf Apollos, auf Paulus? Das nun gar nicht! Eitelkeiten, Parteilichkeiten und persönliche Befindlichkeiten, haben bei der Frage nach der Grundlage für die Taufe nichts verloren. Paulus versucht, die theologische Richtung klarzumachen. Es geht nicht um ihn oder irgendwen oder irgendwas anderes. Es geht um das Kreuz – es ist die gemeinsame Grundlage von allem.

Und dieses Kreuz ist schwer zu fassen, das weiß Paulus auch. Das Kreuz steht quer zur Welt, zur menschlichen Vernunft, egal ob Jude oder Griechin. Das Kreuz ist Gottes Umkehr von allem – und das – so Paulus – ist die rettende Botschaft – denn keiner kann den Anspruch erheben: Ich hab’s verstanden! Mir nach! Und sich in die erste Reihe stellen. Das Kreuz steht uns immer dann im Weg, wenn es zu eindeutig wird, oder zu einfältig, oder zu einfach. Es steht quer zu allem, was uns Menschen zugänglich ist.

2000 Jahre später stehen wir anders da als die Gemeinde in Korinth. Viele Dinge haben wir in einheitliche Standards gegossen. Es gibt Formulare, Agenden, Bekenntnisse. Ein langer Prozess mit vielen Konflikten, vielen Kompromissen liegt hinter uns. Es gab immer wieder mutige Menschen, die sich in den kirchenpolitischen Wind gestellt haben und zur Achtsamkeit gemahnt, zur Gemeinschaft verpflichtet, um den Respekt vor der Tradition und den Säulen der Kirche gerungen haben, die aber auch Mut gemacht haben zur Freiheit in der Auslegung und zum Anstoßen eines Transformationsprozesses von Kirche und Gemeinden.

Heute stehen wir anders da und doch irgendwie ähnlich:

Was hätte Paulus uns dreien zu sagen gehabt, vor einiger Zeit in diesem Biergarten am Rande der Stadt: Da eine Freundin, eine junge Pastorin, seit drei Jahren in einer ländlichen Gemeinde, da ist mein Mann, Pastor in leitender Funktion, und ich. Neu in dieser Gemeinde mitten in der großen Stadt. Wir sitzen zusammen, lauschig, in der Abendsonne in der Außengastronomie. Wir reden über vieles, aber immer wieder landen wir oder beharren bei dem Thema: Die Zukunft der Kirche.

Die Junge aus der Generation kirchlicher „Influencer*innen“, ich die Ältere, die die vollen Gemeindefeste und Konfi-Fahrten erleben durfte, und der andere Ältere, der die „Seite“ gewechselt hat, und nun Anlaufstelle ist für die Pastor*innen der Gemeinden in seiner Propstei mit ihren Haushaltslöchern, dünnen Personaldecken, Relevanzfragen – wir füllen den Tisch mit unseren Baustellen: Die Gemeinde unserer Freundin soll regionalisieren mit den vier umliegenden Gemeinden, erzählt sie. Aber so richtig will keiner das. Jede und jeder kämpft um den eigenen Kirchturm. Die Kolleg*innen sind unterschiedlich Team-fähig bzw. bereit zur Zusammenarbeit. Die Vorstellungen, was Gemeinde ist oder sein soll, gehen meilenweit auseinander. Wie wollen wir Gottesdienst feiern? Gerade nach dieser Zeit oder in der Zeit mit Corona. Wie soll das gehen? Eine Sitzung nach der anderen. Immerhin gibt es noch Amtshandlungen, aber auch Austritte, jeden Monat. Und was man neu beginnt, scheitert entweder an der Angst vor dem Neubeginn oder an mangelndem Interesse.

Es fällt schwer, kann ich beitragen, wenn so unklar ist, wen man wie womit erreicht und eigentlich gar nicht wissen kann, was die Menschen von uns bzw. ihrer Kirche wollen. Und: Welche Menschen eigentlich? Und wie kann Neues entwickelt werden, wenn das Alte doch auch einige trägt? Es gibt den Modus der Sehnsucht. Es wäre doch so schön, wenn… Ich lege den Finger in die Wunde: Fehlt „die Kirche“, was immer sie auch ist, überhaupt jemandem? Was ist, wenn zuerst die Glocken nicht mehr läuten und dann der Co-Working-Space in die Kirche einzieht? Und fühle mich manchmal wie im Blindflug, wo werde ich landen?

Was hätte Paulus uns dreien zu sagen gehabt an diesem Tisch im Biergarten am Rande der Stadt?

Vielleicht das, was er etwas weiter hinten im Brief an die Korinther*innen schreibt: „Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! 14 Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen!“

Oder das, was er seiner anderen Gemeinde, der in Rom schreibt, die mit ihren anderen Baustellen:

„Wenn es nach mir geht – ich bin bereit, auch bei Euch (in Rom) das Evangelium zu verkünden. Denn ich schäme mich nicht für die Gute Nachricht. Sie ist eine Kraft Gottes, die jeden (und jede) rettet, der oder die zum Glauben gekommen ist“

Ich greife mir an den Hals. Dort hängt die Kette mit dem Kreuz. Mein sehr nachträgliches verspätetes Geschenk zu meiner Konfirmation an mich selbst. Neulich beim Juwelier. Es lag noch auf dem Verkaufstresen, nachdem die Frau vor mir den Engel bezahlt und als Geschenk hat verpacken lassen. Ja, ich will. Ich nehme es. Ich schäme mich nicht, vom Evangelium, von Christus und dem Kreuz zu erzählen. Kraft Gottes. Unsere Rettung.

Befreiung aus den Fesseln aller Aussichtslosigkeit, allen Streits, aller Gewalt, aller Unterdrückung, aller Auslöschung. Gott strebt hinaus aus der Enge in die Weite der Freiheit vom Tod ins Leben.

Erklären kann ich das nicht! Doch ich bin sicher: Jesus geht weiter, Jesus hört nicht auf zu leben, Jesus verschwindet nicht im Grab.

Amen