Predigt von Pastorin Anja Stadtland

(gehalten am Sonntag, den 7. November 2021)

Liebe Gemeinde!

Am Dienstag habe ich mit der Konfirmand*innen-gruppe einen der für den drittletzten Sonntag des Kirchenjahres vorgesehenen Predigttext angeschaut. Wozu soll ich wohl pre­digen, habe ich sie gefragt. Sie haben den Text gelesen und mir dann geraten: über Fins­ternis; über Mahnung zur Wachsamkeit; darüber, dass wir nicht wissen, wann der Zeit­punkt ist, wenn Jesus kommt. Jesus kommt, wenn er kommt, und dann begreifen es die, die dann wach sind! Die anderen verpennen es! Darüber sollte ich predigen!

Und das mache ich jetzt. Und ich denke darüber nach, dass übermorgen der 9. November ist. 1938 am 9. November wurden 1400 Synagogen verwüstet und verbrannt, Torarollen gingen im Feuer auf, über 30000 Juden und Jüdinnen wurden in Konzentrationslager ver­schleppt. Es war nicht der Anfang und erst recht nicht das Ende der Verfolgung und Ver­nichtung. Wir wissen das alle.

Den Predigttext hören Sie später.

 Am 9.Oktober 2019 bin ich in Berlin – drei freie Tage. Abends besuche ich eine Veranstal­tung im Deutschen Theater, nahe der Oranienburger Straße. Nahe der Synagoge. Ich habe Zeit, laufe herum in dem Viertel, in dem man auch koscher frühstücken kann, in dem mir Männer mit Schläfenlocken entgegenkommen, sichtbar jüdisch, andere sind unsichtbar jüdisch– Sneaker und Jeans, Anzug. Dass Jom Kippur ist, der höchste Feiertag im Juden­tum, realisiere ich nicht. Auch wundere ich mich nicht über die kleine Schar Menschen mit einer Israel-Fahne und Polizei-Schutz vor dem Eingang zum S-Bahn-Hof. Berlin pulst, ir­gendetwas ist immer. Polizei-Präsenz keine Seltenheit.

Im Hotel angekommen, schalte ich den Fernseher ein: Halle – vereitelter Anschlag auf die Synagoge – die jüdische Gemeinde war komplett versammelt zum Gebet an Jom Kippur. Zwei Menschen auf der Straße sterben. Aus Wut, weil der Täter nicht hineinkommt in das Bethaus. Auf einmal bekommt alles ein anderes Gesicht. Während ich im Deutschen Thea­ter einem Vortrag lausche, teilt die Bundeskanzlerin in der Synagoge zwei Straßenzü­ge entfernt Trauer und Bestürzung über den Anschlag in Halle mit der jüdischen Gemeinde in Berlin. Die Menschen vor der S-Bahn mit der Fahne demonstrieren nicht, sie trauern. Und ich? Ich sitze sprachlos vor dem Fernseher – ganz nah und doch so weit entfernt!

Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Weg zum jüdischen Museum – dem Terror trotzen, denke ich. Eine Ausstellung zur deutsch-jüdischen Gegenwart. So spürbar gegen­wärtig war mir die jüdische Gegenwart in Deutschland noch nie. Nah bin ich dran, am real existierenden Antisemitismus in unserem Land. Ich realisiere die Polizei-Präsenz. Norma­ler Alltag – die Wachen mit Maschinengewehr gibt es immer, die Streife-fahrenden Mann­schaftswagen – hier und vor anderen jüdischen Einrichtungen in Berlin und überall in Deutschland. „Bitte gebt Schutz“ – denke ich.“

Zwei Jahre später. Mitte Oktober 2021. Ich bin in Berlin. Fünf Tage Fortbildung: „Zwischen Diplomatie und Bekenntnis“ – welche Rolle spielen Religion und Glaube im politischen Berlin, so lautet das Thema. Wir sind eine Gruppe von 15 Pastor*innen und treffen dank der gut vernetzten Leitung dieser Studienfahrt eine Menge interessanter Repräsentant*in­nen des politischen Lebens in der Hauptstadt. Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Ver­treter*innen verschiedener Organisationen. Womit wir nicht rechnen – alle nicht in dieser Brisanz: Das politische Arbeiten habe sich verändert, das Miteinander unter denen, die et­was bewegen, die sich einsetzen, die ihre Kraft und Liebe zur Verfügung stellen für die Be­lange in Gesellschaft und Politik. Alle berichten das. Im Bundestag und damit an vielen un­terschiedlichen Orten hat eine Partei Platz genommen, die das demokratische System der Bundesrepublik mit perfiden und schwer zu greifenden Mitteln zu unterhöhlen, zumindest zu stören versucht. Einiges kann zu Protokoll genommen werden, doch die wirklichen hef­tigen Vorfälle geschehen, wenn keine Kamera, kein Mikrophon läuft.

Am Dienstag Morgen treffen wir Petra Pau – die mittlerweile wiedergewählte Vizepräsiden­tin des Bundestages. Eine Politikerin, beteiligt an der Gründung der „Linken“, in der sie seitdem unterschiedliche Aufgaben und Posten innehatte. Ihr starkes Engagement in der Flüchtlingskrise, ihr Einsatz gegen Neonazis vor allem in ihrem Wahlbezirk Berlin-Mar­zahn-Hellersdorf und ihre Tätigkeit als Obfrau der Linken im NSU-Untersuchungsaus­schuss des Bundestages brachte ihr unzählige Morddrohungen von rechts ein. Davon er­zählt sie und davon, was sich seit 2017 verändert hat, seitdem die AfD in den Bundestag eingezogen ist. Mit Parteipolitik hat unser Treffen nichts zu tun.

Es geht um Mahnung zur Wachsamkeit – das vermittelt sie eindringlich und liest einen Text aus ihrem kürzlich veröffentlichten Buch „Gott hab sie selig“.

Diesen Text hören Sie jetzt: (in Auszügen)

„Am 10. Mai 1933 ließen die Nazis in 22 Hochschulstädten Bücher ihnen nicht genehmer Autoren verbrennen. Zu ihnen gehörten unter anderen Karl Marx, Sigmund Freud, Kurt Tu­cholsky, Carl von Ossietzky, auch Heinrich Heine. Der hatte schon zu seinen Lebzeiten ge­warnt: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Und so kam es ja auch.

Alljährlich erinnern wie auf dem Berliner Bebelplatz, wie der Platz seit Langem heißt, mit dem „Lesen gegen das Vergessen“ an diese Schande. 2018 las ich Passagen von Erich Kästner. Auch seine Bücher landeten 1933 in den Hass-Flammen. Später, 1956, hatte er rückblickend gemahnt: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 be­kämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheits­kampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine La­wine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf…“ Wie kam Kästner ausgerechnet auf 1928? Und was bedeutet das heute?

Ich biete ihnen einige Zitate an [eine Auswahl] und dann fragen sie selbst.

  • AfD-Gauland am Abend der Bundestagswahl, 24. September 2017: „Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen! Und wir werden uns unser Land und un­ser Volk zurückholen!“
  • AfD-Höcke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 16. Oktober 2015: „Ich will, dass Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit hat. Ich will, dass Deutschland auch eine tausendjährige Zukunft hat.“
  • AfD-Gauland im Bundestag, 22. Januar 2018: „Wenn man Krieg haben will in die­sem Bundestag, dann kann man auch Krieg haben.“

[…]

Schließlich noch dieses Zitat:

„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Ge­sinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahm zu legen. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. […] Wir kommen nicht als Freunde, und auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“

Nein, das waren weder Gauland noch Höcke, wie man an den sprachlichen Bezügen auf den „Reichstag“ und die „Weimarer Gesinnung“ erkennen kann. Das war Joseph Goeb­bels, zu der Zeit, 1928, NSDAP-Gauleiter von Berlin und Reichstagsabgeordneter der NSD­AP.“ (Petra Pau, Gott hab sie selig, Berlin 2021, S. 29-31)

Über Mahnung zur Wachsamkeit soll ich predigen. Dass der Tag des Herrn kommt, irgend­wann. Merken werden es die, die wachsam sind, die anderen werden es verpennen:

Jetzt, jetzt kommt der Bibeltext aus dem ersten Brief, den Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki geschrieben hat: (1. Thess 5, 1-8)

1 Was die Zeiten und Fristen betrifft, Brüder und Schwestern, darüber brauche ich euch nichts zu schreiben.

2 Denn ihr wisst selbst ganz genau: Der Tag des Herrn kommt unerwartet wie ein Dieb in der Nacht.

3 Gerade sagen die Leute noch: „Wir leben in Frieden und Sicherheit!“ Da wird das Ver­derben ganz plötzlich über sie hereinbrechen – so wie bei einer schwangeren Frau plötz­lich die Wehen einsetzen. Dann gibt es kein Entkommen.

4 Brüder und Schwestern! Ihr lebt nicht in der Finsternis. Deshalb wird euch der Tag des Herrn nicht überraschen wie ein Dieb.

5 Denn ihr seid alle Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören weder der Nacht noch der Finsternis.

6 Lasst uns also nicht schlafen wie die anderen. Lasst uns vielmehr wach und nüchtern sein!

7 Denn wer schläft, schläft in der Nacht. Und wer sich betrinkt, ist nachts betrunken.

8 Aber wir gehören zum Tag. Deshalb wollen wir nüchtern sein – gewappnet mit Glaube und Liebe als Brustpanzer und der Hoffnung auf Rettung als Helm.

Ich möchte mit einem lyrischen Gebet enden: „Lamrot hakol“ – das hebräische Wort für „Trotz allem“. (aus: Christina Brudereck, Trotzkraft, Text 6)

למרות הכל

Lamrot hakol.

Trotz alledem.

In spite of everything.

Am Morgen einen Psalm meditieren.

Beten trotz der Albträume.

Aufstehen.

Etwas anziehen.

Mich schminken.

Das Bett machen.

Lamrot hakol.

Bedeutet, eine Bedeutung zu ahnen.

Eine Haltung dem Leben gegenüber.

Katastrophen, Schmerzen und Versagen inbegriffen.

למרות הכל

Ein Lied.

Stärkt das Herz.

Bewirkt, dass ich mich geliebt weiß

von G-tt.

Von Barmherzigkeit.

Lässt mich meinen Weg gehen.

Mitten in einer gekränkten Welt.

Lamrot hakol.

Bis die Sonne wieder untergeht.

In Erinnerung an meine Früheren, unsere Toten, die Alten.

In Gedanken an unsere Kinder und die Kommenden.

Ausatmen, Einatmen.

„Trotzdem bleibe ich immer bei dir.“ (nach Psalm 73, Vers 23)

Bruchah at Schechinah eloheinu ruach ha’olam.

Gesegnet bist Du.

Mögen wir in Frieden leben.

Und wieder aufstehen.,

um das Leben derer zu schützen, die uns anvertraut sind.

Amen. Es werde wahr mit uns.

למרות הכל

Lamrot hakol.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Sie können mich erreichen unter:

a.stadtland@standreas-hamburg.de

0176/48060890