Predigt 10. Sonntag nach Trinitatis

von Pastor Dr. Kord Schoeler | St. Andreas Harvestehude

Israel – exklusiv?

Predigt zum 10. Sonntag nach Trinitatis 2021

Am 10. Sonntag nach Trinitatis, in diesem Jahr der 8. August, denkt die evangelische Kirche an ihre Verbundenheit mit Israel, mit dem heutigen Judentum sowohl wie auch mit dem Volk und dem Glauben, aus dem Jesus kam. In welcher Weise Israel „Gottes eigenes Volk“ ist, davon erzählt das zweite Buch Mose, Exodus:

Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.

Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun verlässlich auf meine Stimme hören und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.

Mose kam und berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm der Herr geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun. Und Mose sagte die Worte des Volks dem Herrn wieder.

Exodus 19,1-8

Liebe Gemeinde,

es ist verdrießlich und fördert den Frieden nicht, wenn Völker oder auch Religionen sich als etwas Besonderes verstehen und andere dagegen abwerten.  Wenn der erste Petrusbrief viele Jahrhunderte nach dem Exodus-Buch an eine christliche Gemeinde schreibt: Ihr … seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk (1. Petrus 2,9), so nimmt er die Worte, die Mose von Gott an das Volk in der Wüste weitergibt, auf. Was will der Petrusbrief damit sagen? Meint er eine Sonderstellung bei Gott, und überträgt er ein exklusives Selbstverständnis von Israel auf die Christen im Sinne eines: „ihr gehört dazu, seid ausgewählt, und die anderen sind es nicht und sind damit in letzter Konsequenz vom Gottesverhältnis ausgeschlossen?“

Die Exodus-Geschichte erzählt anderes: Das besondere Verhältnis Israels zu Gott beginnt nicht glanzvoll, sondern in einer Krise, in der Wüste, in einer lebensfeindlichen Lage, in die sie mit Not gerettet worden sind. Ihr Leben stand und steht auf dem Spiel. Besonders ist an ihnen höchstens ihre Not. Aus einer versklavten, rechtlos ausgebeuteten Bevölkerungsgruppe in Ägypten, sind sie zu einem heimatlosen Haufen in der Wüste geworden. Aber die wüste Bergregion ist auch ein Ort der Gottesnähe: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Sie sollen sich sehen als Gerettete und Befreite und Gott in seinem Wesen als Befreier. So wird er sich wenig später zu Beginn der Zehn Gebote vorstellen: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe (Exodus 20,2). Wenn Gott spricht, wenn er Weisungen gibt, dann setzt er damit immer frei. Dies ist der Grundmodus seiner Beziehung zu Israel und zu allen Menschen.

Er wird, so sagt es Mose, zu ihnen reden, und als Freie können sie hören. Werdet ihr nun verlässlich auf meine Stimme hören und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern. Im Hören sind sie Gottes Volk, sein Eigentum, aber gleich hier wird auch deutlich gemacht, dass dieser Bund nicht exklusiv, nicht ausschließend ist; denn die ganze Erde ist mein.

Mit der Freiheit ist es ernst gemeint. Sie werden gefragt, und zwar alle. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun. Gefragt sind sie wirklich, denn ihre Antwort muss bei Gott auch ankommen: Und Mose sagte die Worte des Volks dem Herrn wieder. Damit erst ist der Bund, dieses besondere und doch für alle Welt offene Verhältnis, wirklich geschlossen.

Man ahnt, warum dem Judentum die Weisung, die Thora, das Gesetz zwar von höchster Wichtigkeit ist, warum man das Judentum aber gründlich missverstehen würde, wollte man es als autoritäre Religion ansehen. Das Gebot Gottes lebt überhaupt nur im Hören und in der freien Antwort darauf.

Insofern führt der erste Petrusbrief das Bild vom königlichen Priestertum, von Gottes eigenem, heiligen Volk ganz richtig fort, wenn er schreibt, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der Euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht (1. Petrus 2,9). Licht strahlt aus, Freiheit beengt nicht, sie gibt auch immer die anderen frei und schließt nicht aus.

Es gibt freilich auch im Judentum wie in allen großen Religionen – auch im Christentum, im Islam oder im Buddhismus – ein autoritäres Verständnis und eine strenge autoritäre Praxis der eigenen Religion. Aus Gottes Offenbarung am Sinai heraus stellt sich das als Missverständnis dar. Dieses Missverständnis führt zurück in eine andere Knechtschaft.

Gebote und Moral lösen zur Zeit bei vielen Missmut aus, als wären eigentlich sie es, die uns knechten. Man kann vom Judentum ein schöneres Verständnis des Gebots lernen: du bist angesprochen, du bist zu einer Antwort frei, du kannst immer erstmal hören und kannst dann tun, was naheliegt und was Gutes ausstrahlt.

Bleiben Sie behütet!

Ihr Pastor Dr. Kord Schoeler