Predigt 11. Sonntag nach Trinitatis

von Pastorin Anja Stadtland | St. Andreas Harvestehude

Predigt 15.08.2021 Pastorin Anja Stadtland

 

Liebe Gemeinde!

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Meine Großmutter hatte für jede Lebenslage einen guten Spruch parat. Sie meinte mich damit, als ich meinen Bruder verpetzt habe, wegen der Süßigkeiten, die er einfach genommen hat, selbst den Lolli hinter’m Rücken versteckend. Oma hatte einfach den siebten Sinn. Und der Spruch erschloss sich mir sofort: emotional jedenfalls. Wer selbst Mist baut, sollte lieber den Mund halten.

Darüber, was hinter diesem Spruch steckt, was Bildebene und Sachebene miteinander zu tun haben, möchte ich heute nachdenken. Die verschiedenen Texte, die für diesen Sonntag vorge­sehen sind, sind wie ein Koordinaten-System, in dem wir, wenn wir uns drauf einlassen, heute über unseren Glauben nachdenken. Ich skizziere:

Da ist der Predigttext aus dem 2. Kapitel des Epheserbriefs: Obwohl wir Menschen nicht so le­ben und handeln, wie wir sollten, gibt Gott uns nicht auf und uns immer wieder die Möglichkeit, gut zu handeln. Mit Jesus Christus schenkt Gott uns das Leben in Gnade. Gottes Handeln ist es in uns, was das Gute bewirkt. Weil Gott uns liebt, nicht weil wir so toll sind oder so gut und rich­tig glauben.

Da ist das Evangelium. Lukas 18. Der selbstverliebte und überhebliche Pharisäer und der Zöll­ner, der sich dazu bekennt, unvollkommen zu sein. Klare Botschaft: Hochmut kommt vor dem Fall. Hätte meine Oma jetzt gesagt.

Der alttestamentliche Text im 2.Samuel flankiert das Ganze: Der Prophet Nathan erzählt David, dem König, von einem Ereignis, und will das Urteil von ihm: Ein reicher Mann nimmt einem ar­men Mann dessen einziges geliebtes Schaf und schlachtet es, statt eines von seinen vielen ei­genen Schafen zu nehmen. David ist entrüstet und will vierfache Strafe für den Reichen. Doch: Nathan hält David mit dieser Geschichte den Spiegel vor. Du, David, bist der Mann. Denn David hatte dem Soldaten Uria seine Frau weggenommen. Sie wurde schwanger, und damit David heil aus der Sache rauskommen konnte, ließ er Uria töten. Vor Nathan bekennt David jetzt und hier seine Schuld. David trägt Verantwortung und setzt sich mit den Folgen für sein Tun ausein­ander. Und mit Gott, das Tun ist Teil der Beziehung zwischen Gott und David.

In Frankreich gibt es kein Pfandsystem. Plastikflaschen landen im Müll, immerhin getrennt, fast zumindest. Auch Glas landet im Container – jedes Glas. Kein Recycling, mit dem ich Zuhause immer ein gutes Gefühl habe, etwas zur Rettung der Welt beizutragen. In Frankreich also kein Joghurt im Glas. Wir essen viel Joghurt. Machen wir in unseren drei Urlaubswochen Pause mit dem Umweltbewusstsein? Der Klimawandel ist nur zu schaffen, wenn wir übernationale Geset­ze haben, alle an einem Strang ziehen. Heißt das, es ist eben wie es ist? In Frankreich ist man noch nicht so weit, die wollen halt den Müll? Wir stapeln die Plastikbecher… Wir diskutieren, ständig. Greta gibt ihr Leben für das Klima. Und wir? Mein großes Kind am Tisch ist bestens in­formiert. Seine Verzweiflung ist ähnlich ausgeprägt wie sein Wissen. Hast Du keine Angst, Mama? Warum habt ihr alle keine Angst? Es gibt für ihn nichts zwischen Klimaschutz und kei­nem Klimaschutz. Und klar ist: Wir Menschen sind einfach zu viele. Und so lange das Wirt­schaftssystem funktioniert, wie es funktioniert, aufgebaut auf rück­sichtslosem Fortschritt ist die Welt nicht zu retten. Dann wird das Methan in 50 Jahren die Atmosphäre so aufgelöst haben, dass es überall brennt, nicht nur in Griechenland und der Türkei. Flutwellen wie die des Sommers werden zur Tagesordnung gehören. Er hat Angst um sein Leben, und nicht nur um seins. Mit Tränen in den Augen fragt er: Warum habt ihr das denn nicht schon viel früher ernst genommen? Am besten wäre, die Menschen wären alle tot. Das meint er ernst. Wenn wir uns so außer­halb jeglicher Ökosysteme stellen und alles nur zerstören, ohne jede Nachhaltigkeit. Was hat Gott sich dabei gedacht? Ich muss doch irgendwas tun!

Ich bin sprachlos, hilflos. Als Mutter, als Vertreterin einer anderen Generation, als Gottes-Gläu­bige. Ich finde ja, er hat Recht. In seiner Radikalität gibt es keine andere Wahl. Er hat Recht, uns anzuklagen, die Generation vor ihm. Und zu fordern, dass wir jetzt alles Notwendige tun, koste es, was es wolle, um Gottes Schöpfung endlich in unserem Handeln gerecht zu werden und sie zu schützen, zu bewahren und zu retten. Und doch bin ich sprachlos und hilflos.

Sprachlos und hilflos war ich auch vor dreißig Jahren: Unterwegs in Bayern, im Urlaub mit mei­ner Oma. Jahrgang 1916. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges war sie 23 Jahre alt. Ein deut­sches Mädchen. Ihr Vater war Soldat im ersten Weltkrieg, ihre Mutter hat Adolf Hitler verehrt. Eine normale deutsche Familie dieser Zeit. Ich bin 18 Jahre alt in diesem Sommer vor fast drei­ßig Jahren. Die Mauer, die Wunde unseres Landes, war gerade Geschichte geworden. Unfass­bar, was hinter ihr zu Tage kam und unter ihr begraben zu werden drohte. Ich stand kurz vor’m Abi. Geschichts-Leistungskurs, bestens informiert und meine Verzweiflung ähnlich ausgeprägt wie mein Wissen. Warum konnte das alles so kommen, Oma? Warum habt ihr das zugelassen? Wie konnte Hitler an Macht gewinnen. Und ihr nicht merken, was geschieht. Die Öfen in Au­schwitz, Buchenwald und Birkenau haben doch zum Himmel gestunken. Ich war außer mir, dass meine Oma, eine in meinen Augen kluge Frau nicht wahr haben wollte, dass wir uns die eine Hälfte der Bibel mit dem Judentum teilen. Mit den Juden haben wir doch nichts zu tun. Warum dürfen wir weiterleben in unserem Land, in diesem Wohlstand, im Land der Täter, das jetzt auch noch grüne Landschaften im Osten verspricht? Im Hotelzimmer weit weg von Zuhau­se haben wir bis weit nach Mitternacht gestritten, uns fast entzweit. Ich glaube, sie war verzwei­felt, hilflos. Am nächsten Tag haben wir erst geweint, uns umarmt und uns bedankt für Vertrauen und Offenheit.

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Der praktische Nutzen dieses Ratschla­ges liegt auf der Hand. Glas bricht, wenn ich mit einem Stein werfe. Ich meine, ich wäre in einer guten Position. Von hier aus kann ich alles sehen, beurteilen und dann zielsicher meinen Wurf ausrichten, um den oder die da draußen zu treffen, zu verletzen, zu beschädigen. Doch das Glas lehrt mich eines anderen: Ich werde gesehen. Der von draußen sieht mich auch. Kann in meine Welt schauen, Transparenz in beide Richtungen. Vielleicht nicht heute, vielleicht erst in dreißig Jahren. Werfe ich, zerstöre ich. Über die Zeiten hinaus. Also nicht werfen? Nicht reagie­ren, auf das, was ich sehe? Das Sprichwort lässt die Konsequenz offen: Was tun, wenn nicht werfen? Transparenz ist das Stichwort. Wir Menschen sind von Gott gewollt. Das glaube ich fest. Wir tragen Verantwortung für unser Tun. Gelingen tut es in vielen Fällen nicht. Wir werden schuldig an Mensch, Tier, Umwelt. Gewollt oder ungewollt. Es gibt kein Leben ohne Schuld und Sünde. Diese Tatsache ist glasklar. Egal, wie sehr wir uns bemühen, unser Tun hat Folgen. Wir tragen Verantwortung, müssen uns den Folgen stellen: Transparenz schaffen. Vor uns selbst, vor Gott, vor unseren Mitmenschen. So stehen wir in der Welt, ob wir wollen oder nicht. Wegdu­cken ist keine Möglichkeit. Auch mein Sohn wird irgendwann vor jemandem stehen, seinen Kin­dern, Enkel*innen, Schüler*innen, die die Konfrontation wollen und Antworten. Wie konnte es so kommen. Ich hoffe, er wird sein Glashaus öffnen, so dass Luft hineinkommt und Menschen von überall. Ohne Steine. Mit der Absicht zu verstehen. In Demut und Respekt. Ein Haus mit einem sicheren Fundament: Bruchsicher und stabil.

Vielleicht so, wie es im Epheserbrief steht: Aus Gnade seid Ihr gerettet – durch den Glauben. Das verdankt ihr nicht eurer eigenen Kraft, sondern es ist Gottes Geschenk. Er gibt es unab­hängig von irgendwelchen Taten, damit niemand darauf stolz sein kann. Denn wir sind Gottes Werk. Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus Jesus hat er uns so geschaffen, dass wir nun das Gute tun. Gott selbst hat es schon für uns bereit gestellt, damit wir unser Leben entspre­chend führen können.

Amen.