Predigt 16. Sonntag nach Trinitatis

von Pastorin Anja Stadtland | St. Andreas Harvestehude

Predigt am Sonntag, den 19. September 2021, von Pastorin Anja Stadtland

Liebe Leserin, lieber Leser!

Das Evangelium von der Auferweckung des Lazarus wurde im Gottesdienst verlesen.  Nicht der ganze Text allerdings. Der wäre sehr lang. Entsprechend der Vorgabe für heute gab es eine Auswahl von Versen. (Joh 11, 1-3.17-27) So entsteht dieser Eindruck: Lazarus ist krank, dann ist er tot, dann kommt Jesus, versichert sich des Glaubens von Marta, Leute räumen den Stein weg und mit Hilfe seines Vaters im Himmel befiehlt Jesus Lazarus: Komm heraus! Und das Unglaubliche passiert. Lazarus spaziert aus dem Grab heraus. Eine Geschichte mit Happy End!

Eine Geschichte, die offen lässt, was „Kranksein“ meint, die offen lässt, was „Am Leben sein“ meint, die offen lässt, was „Gestorben sein“ meint. Eine Geschichte, mit der Jesus jedoch den Sack scheinbar zubindet: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Der Glaube – das ist die entscheidende Größe: Glaubst Du das? Wenn ja, dann ist alles möglich! Auch ein Happy End, das niemand mehr für möglich gehalten hat. Jesus stellt seine Vollmacht unter Beweis und die Herrlichkeit Gottes – das ist der Subtext dieser Geschichte. Fast arrangiert Jesus seine Herausforderung:

Er geht nicht zu dem Kranken, nein er wartet, bis dieser gestorben ist, dann geht er hin. Jetzt kann Jesu Macht voll zur Geltung kommen. Wer das jetzt nicht klar sieht, dem bleiben die Augen verschlossen. Wer es sieht, gewinnt an Glauben. „Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“

Was darauf folgt, ist der Entschluss der Hohenpriester und Pharisäer, Jesus zu töten. Was dann folgt, Sie wissen es!

Maranatha! Er ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden! Der dreifache Osterruf hat Tradition!

Mutig, voller Freude und Erleichterung rufen sich Christ*innen am Ostermorgen zu: Er ist auferstanden! Das Unglaubliche ist geschehen. Das Unfassbare gilt es auszusprechen, als könnte man es dadurch in eine Fassung bringen, selbst wieder Fassung erlangen.

Wenn es gut läuft, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Der eine sagt es der anderen, die dem nächsten, der jener, die ihm entgegenkommt. Und dann, irgendwann, weiß es auch der oder die letzte: Die Leidenszeit, die Zeit der Trauer ist vorbei. Überstanden das Tal der Tränen und der Verzweiflung, der Mut- und Perspektivlosigkeit! Die Güte und die Barmherzigkeit Gottes haben gesiegt: Das Leben beginnt neu, oder es geht irgendwie weiter. Ein für alle Mal weiß ich oder sollte es wissen, zumindest glauben, mit all meiner Kraft und meiner Seele und allem, was in mir ist: Dem Tod ist der Stachel genommen. Das Leben ist größer, tiefer, weiter, geht über sich hinaus, es ersteht auf aus dem dunklen Grab, in dem es nach Abgrund riecht, in dem keine Luft ist zum leben.

Jesus straft unsere Mutlosigkeit Lügen, Maranatha! Dreimal Maranatha!

Auf meinem Osterspaziergang, der auch manchmal eine Joggingrunde ist durch Wald und Feld, nehme ich mir Jahr für Jahr vor: Heute ersetze ich das alltägliche „Moin“ durch eben diesen Ausruf: „Maranatha!“ Er ist auferstanden! Dann täte ich etwas völlig Verrücktes. Ich könnte es einfach tun! „Maranatha!“ Dem ersten Pärchen am Ostermittag zurufen: Er ist auferstanden! Toller Gedanke! Absurder Gedanke! In Gedanken habe ich es schon getan! War toll! Erst waren sie ahnungslos. Maranatha – was soll das sein? Dann haben sie verstanden. Der Ruf, meine Haltung, meine Hoffnung und meine Freude haben ihnen etwas zugespielt: Aha, na klar! Maranatha! Das Leben hat überlebt!

Ein Gedankenspiel. So wie auch das – nur ganz anders.

Am Osterabend vor dem Fernseher. 20 Uhr. Die Nachrichten vom Tage.

Ein Anschlag auf den Flughafen einer großen Stadt. 10 Todesopfer, drei davon unter 10 Jahre alt. Maranatha! Er ist auferstanden! Ich versuche mutig, mir das selbst zuzurufen.

Beim nationalen Waldgipfel ist deutlich geworden: Ein Drittel der Waldflächen ist massiv gefährdet. Die grüne Lunge hat Atemnot. Maranatha! Er ist auferstanden! Noch einmal.

Die Zahl der Corona-Toten ist weltweit auf vier Millionen gestiegen. Maranatha. Er ist doch auferstanden! Mir schnürt sich der Hals zu. Aus dem Ruf wird ein heiseres Krächzen!

Katastrophen-Zeit! Leidens-Zeit! Hoffnungslosigkeits-Zeit! Angst-Zeit! Trauer-Zeit! Weinen und Klagen bleiben mir. Klagelieder. Wir haben sie in der Bibel, Katastrophenliteratur aus einer anderen Zeit. Die Klagelieder Jeremias verarbeiten den Untergang und die Zerstörung Jerusalems im 6. vorchristlichen Jahrhundert. Krieg und Zerstörung und schreckliches Leid, Zweifel an Gott, an der Rettung all das wird in dunkelsten Bildern ausgemalt. Es gibt keine Aussicht, keine Hoffnung, dazu krasseste Darstellungen der Leidenserfahrungen. Krankheit, Gewalt und Tod, schockierende Inhalte in strenger sprachlicher Form.

Und mitten drin zwischen Katastrophe und Katastrophe eingeklemmt, unser Predigttext, die Verse, die für heute vorgesehen sind:

22 Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß. 24 Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25 Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. 31 Denn der Herr verstößt nicht ewig; 32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Für sich genommen, herausgenommen, sind das wohltuende Worte. Alles wird gut werden. Die Katastrophe wird sich abschwächen, kleiner werden und wir werden herauskommen. Nicht heute, aber bald. Hoffnung auf Zukunft hält dieser Text offen. Eine berechtigte Hoffnung, die aus dem Glauben an Gott wächst, der nicht zulässt, was wir gerade erleben. Eigentlich jedenfalls, auch wenn wir es gerade erleben. Diese Hoffnungsworte und Glaubensbeteuerung Jeremias sind leichtfüßig in Zusammenhang zu bringen mit dem Text aus dem Johannes-Evangelium über Lazarus. Happy-End-Modus. Verständlich, denn wer will schon versinken im Tal der Tränen.

Doch es ist leichtfertig. Fatal, wenn wir in der Katastrophe, die in unserer näheren und ferneren Umgebung uns den Atem nimmt, unseren Blick vor allem auf den Moment lenken, wo Lazarus sein Grab verlässt und den Tod hinter sich lässt und das Leid. Und: Wenn wir nur dieser einen Strophe aus den Klageliedern Gehör schenken, in der die Klage eine Auszeit nimmt und das Dur der Hoffnung das Moll der Katastrophen-Strophen für einen kurzen Moment übertönt.

Im Judentum heißen die Klagelieder nach dem ersten Wort des Buches „Echa“ . „Ach“, „Wehe“. Verlesen werden sie am großen Trauertag, am 9.Av im Jahreszyklus. An diesem Tag haben sich nach jüdischer Überlieferung fünf Unglücke ereignet. Die Wüstenwanderung wurde angekündigt, der erste und der zweite Tempel zerstört, ein Aufstand niedergeschlagen und Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht. Die Liste wird fortgesetzt: Der erste Kreuzzug wurde ausgerufen, bei dem viele Jüd*innen umgebracht wurden, die Vertreibung der Jüd*innen aus Spanien, der Beginn der Deportation aus dem Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka.

Mit den Klageliedern reflektiert das Judentum seine Geschichte von Vertreibung, Zerstreuung, des Massenmords. Der Katastrophen.

Wir in unserer Gottesdienstordnung und mit Auswahl der zu bedenkenden Texte sezieren Hoffnungs-theologisch – kombinieren mit einer Auferstehungsgeschichte.

Eine Gefahr der Verführung liegt darin:  Die Gefahr, die Augen zu verschließen, das Kind mit dem Bade oder das Kreuz mit der Auferstehung auszugießen – so mitten im Kirchenjahr, irgendwo zwischen Ostern und Weihnachten. Etwa so zu denken: Im Vergleich mit Gottes unendlicher Güte wird jede Katastrophe verschwindend klein. Am Ende wird alles gut!

Oder eine andere Gefahr der Verführung: Ich bin es leid. Das Wort Güte bin ich leid. Ich gebe auf. Meinen Glauben gebe ich auf. In der Katastrophe, im Angesicht des Leides, des Todes. Wo bist Du denn, Gott? Gott binde ich an das Heil, und messe ich an dem Heil, das offensichtlich gerade ausbleibt.

Auch Martha läuft für einen Moment Gefahr, dieser Verführung zu erliegen: „Wärest Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!“ Klagend, anklagend wirft Marta Jesus seine Abwesenheit vor. „Wo warst Du?“

Erstaunlich, was Jesus tut: Im Einzelgespräch stellt er die Vertrauensfrage und nimmt sie in die Verantwortung: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst Du das?“ Und Marta antwortet: Ja, Herr, ich glaube, dass Du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Darum geht es, und nur so kann es gehen: Irgendwo, nicht weit vor der Zeit zwischen Ostern und Weihnachten vergessen wir nicht Karfreitag. Es ist der Mensch Jesus, der dem Leid einen Ort gibt und den Katastrophen eine Stimme, der Leidende und Mitleidende, der am Kreuz die Welt auf den Kopf stellt und zurecht rückt, der uns den Finger in die Wunde legt und will, dass wir Ja sagen. Ich spüre den Schmerz, ich sehe das Leid, ich höre und singe die Klagelieder, und ich glaube: „Du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“ Maranatha!

Amen