Predigt "Was ist Wirklichkeit?"

von Pastor Dr. Kord Schoeler | St. Andreas Harvestehude

Epistel und Evangelium

von H.-G. Hanl | Letzter Sonntag nach Epiphanias

Predigttext zum Nachlesen

Was ist Wirklichkeit?

Predigt zum Letzten Sonntag nach Epiphanias

Liebe Gemeinde,

alles Schöne, alle Aussicht ist so weit weg. Es ist eine finstere Zeit wie ein düsterer, unheimlicher, verwilderter Ort. – So geht es vielen in diesen Tagen, und diese Erfahrung, dass alles zuviel, unübersichtlich und verworren erscheint, kennt auch Jesus. Das Evangelium für diesen Sonntag erzählt:

Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. (Matthäus 17,1+2)

Da wird es also gut, hell, übersichtlich. Der Geist wird frei für Vorstellungen und Visionen.

Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.

Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.

Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!

Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. (Mt. 17,3-8)

Sie haben mehr gesehen und gehört, als eigentlich zu sehen und zu hören war.  Petrus hätte das gerne festgehalten, hätte gern Hütten gebaut, damit die Lichtgestalten, die alles so klar erscheinen lassen, gegenwärtig blieben.

Jahrzehnte später versetzt sich einer in die Rolle des Petrus und erzählt davon, als hätte er es selbst erlebt. Er schreibt in einem Brief:

wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen … als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge … Er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen … (2. Petrus 1,16-18)

Was ist da los? Macht der sich etwas vor? Dieser Mensch kann doch noch weniger gesehen und gehört haben. Er ist nicht wirklich Petrus. Ist es Selbstbetrug? Flucht aus der Wirklichkeit? Was sollen wir davon halten?

Es ist Poesie, vorausschauendes und durchschauendes Wort, Prophetie. Der Autor schreibt nämlich weiter:

Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen. (2. Petrus 1,19)

Gelungene Poesie wie alle Kunst bedeutet immer, dass im Augenblick eine Stimmung, eine Bewegung oder eine Geschichte für uns gegenwärtig wird, als seien wir in eine andere Situation versetzt. Die treffend ausgemalte Gefahr z. B. macht uns wirklich Angst, das erlebte Happyend beglückt tatsächlich.

Wenn wir uns prophetisch mitnehmen lassen auf die Bergwanderung, auf der vieles an Ödnis, Resignation und Verworrenheit im Tal zurückbleibt und sich Deutlichkeit, Licht und Ruhe einstellen, so ist dies doch ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen. Es wandelt die Gestalt die Jesu, er wurde verklärt vor ihnen, die Wirklichkeit gewinnt eine andere Erscheinung.

Prophetisch wird ein Wort, wenn sich im Vernehmen unser Blick auf den dunklen Ort unseres Lebens verklärt. Mit den Augen des Petrus zu schauen, bedeutet, dass wir einen Durchblick gewinnen, dass in unserem Blick die Lage, die nichts mehr verspricht, nichts gibt und nur vergebliche Mühe macht, sich öffnet und klärt. Wir richten uns auf und lassen unseren Blick von dem dunklen Ort fort ziehen in eine Vorausschau.

Wir sehen dann ebenfalls mehr, als – vermeintlich – eigentlich zu sehen wäre. Aber die Poesie des prophetischen Wortes schafft eine erweiterte, wenn auch gelegentlich flüchtig erscheinende Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit macht uns als Menschen aus. Auf diesem Berg der Verklärung werden wir angesprochen: Du bist mein liebes Kind … Höre! und schau, wie der dunkle Ort sich verwandelt!

Bleiben Sie behütet!                                                      Ihr Pastor Dr. Kord Schoeler